5 · Relicuus Tempus: ZERO


Eine der unzähligen Kristallrunen wechselte seit geraumer Zeit ihr Licht immer wieder vom perfekten Reinweiß in ein unheilvoll zartes Rosa. Im Schein dieses pulsierenden Lichts glänzten ruhelos immer wieder die goldenen Fingerglieder des Kampfhandschuhs eines Lux-Generals auf. Das leise Klicken von gehärtetem Aurelitan auf diamantener Oberfläche machte die Kommandocrew schon seit Minuten unmerklich nervös. Dann verstummte das Geräusch der metallenen Fingerspitzen und General Tán beugte seine messerscharfen Gesichtszüge aus der Dunkelheit über das rosafarbene Leuchten.

»Nochmal scannen!«, befahl er, ohne den Sichtkontakt zum Kristall auch nur durch ein einziges Blinzeln zu unterbrechen. Fragende Blicke wurden hinter seinem Rücken ausgetauscht.

Pérò schritt lautlos hinter den Reihen der Offiziere entlang, die durch seine bloße Präsenz bereits ermahnt waren. Das leise Klirren des feingliedrigen Kettenmantels eines Scriptorium-Priesters zu hören, kam durchaus einem drohenden Todesurteil nahe.

Eifrig gehorchten die zuständigen Offiziere, ohne es zu wagen, sich umzudrehen. Die Meldung wurde umgehend gemacht: »General, immer noch dasselbe Ergebnis: Sechs Widerstandsschiffe fliehen von Terra, Genesis-Signal ist jetzt auf Abfangkurs und die unbekannte Signatur ist weiterhin zu schwach, um analysiert zu werden. Sie überlagert sich mit dem G-Kern. Könnte nur eine Interferenz sein, die ...«

»Schweig! Du Unwissender! Ich kenne dieses Signal. Seit Tausenden Jahren ist es nicht mehr aufgetaucht. Und jetzt in Kombination mit einem Ur-Kern?« Die Fingerklinge seiner Generalsklaue tippte beiläufig gegen den Kristall. »Das ist kein Zufall ... oder eine Störung ... es ist ...«

»Seid vorsichtig, was Ihr jetzt sagt«, zischte es durch Péròs schmale Lippen. »Das ist lästerlicher Unfug! Es steht nichts darüber im Scriptorium. Und was nicht ...«

»... im heiligen Wissen vorhanden ist, existiert nicht. Ja ja, werter Priester. Ich respektiere Eure Erkenntnisse. Aber bedenkt, dass auch diese Weisheit erst zusammengetragen wurde. Davor war sie genauso lückenhaft wie Euer Blick für die offensichtlichen Dinge, die diesem Wissen durchaus noch hinzugefügt werden könnten. – Und steckt die Klinge wieder weg!« Sein Tonfall wurde deutlich schärfer. »Noch besitze ich die uneingeschränkte Macht der Exekutive! Das schließt auch Euch mit ein, Priester! Vergesst das nicht! Ihr seid nur als Beobachter hier. – Oder als überqualifizierte Amme, wenn es nach mir geht! – Setzt Euch!«

Statt des goldenen Chepeschs, der Insignienwaffe eines Scriptors, durchschnitt jetzt der hellblau entflammte Blick des Eiferers den Nacken von Tán. Pérò steckte das Krummschwert, so lautlos, wie er es gezogen hatte, wieder zurück unter sein Kettengewand. Äußerlich ruhig, doch innerlich am Kochen, verfluchte er diesen Zweifler vor sich. Aber was der General sagte, entsprach leider der Wahrheit, wusste er – was ihn noch zorniger werden ließ. Bevor er die Beherrschung verlor, wandte er sich ab und verließ schnaubend die Brücke der Veritas. »Das wird Euch eines Tages noch leidtun, alter Freund. Seid gewarnt!« Die kreisrunde Iris der Sektionsschleuse glitt hinter ihm zu und übertönte mit ihrem Scherengeräusch die Stoßseufzer aller noch Anwesenden.

»Hätten wir das also geklärt.« Tán lehnte sich wieder zurück und streckte bequem die Beine unter seinem Pult aus. »Wie lange noch bis Terra?«

»Relicuus Tempus: zehn Stunden, mein General.«

»Gut. Ich will, dass alle Stunde ein neuer Scan gemacht wird. Wenn ich Recht behalte, könnte das noch ein interessanter Tag werden. Jemand Lust auf eine kleine Jagd nach geisterhaften Göttern, die es natürlich gar nicht gibt?«

Gelächter, Gemurmel und harmlose Blasphemie war unter ihm vorübergehend wieder straffrei gestellt. Mit vor der Brust verschränkten Armen galten seine Aufmerksamkeit und die lächelnde Vorfreude ohnehin nur dem kleinen blinkenden Kristall. »Wer bist du, kleines Lichtlein? Bist du es?«


* * *


»... Nekos Traumstele ... nicht kaputt ... Hydra Symbol, viele Köpfe ... viele Wesen – ein Körper ... nicht kaputt ... will raus! ... befreien ... die befreite Unsterbliche ... muss befreien! ... Schwesterchen helfen ... Imōto-chan helfen ... Phi und Shi in Neko ... Neko braucht – Unsterblichkeit braucht ... keinen Serva-Körper ... göttlichen Körper ... Gott ... Kami ... Gami ... Nekogami ... Was ist Nekos Körper? ... Staub ohne Kern ohne Körper? ...«

Azur erwachte aus den zerfetzten Wirren seines Traums.

»Wie lange ... hab ich ... Adina?«

»Guten Morgen, Schlafmütze. Keine Sorge. Wir erreichen Terra erst in etwa 10 Stunden. Du hast geträumt, nicht wahr? Dein Hirnwellenmuster hat mich das schlussfolgern lassen. – Und die Tatsache, dass dein Somniator-Areal ziemlich aktiv mit dem meines neuen Schützlings harmoniert hat; sich geradezu in ihr Unterbewusstsein gekuschelt hat, wenn ich das so anmerken darf. Hihi.«

»Gedankenkuscheln ...« Seine Hand verharrte lange vor seinen immer noch geschlossenen Augen. Er konnte die Bilder des Traums noch klar vor sich sehen. »Ich denke, ... ich weiß jetzt ...« Blind tastete er die Taschen des Mantels ab, der über der Stuhllehne hing. »Wo hab ich denn ...?« Er zog das kleine Säckchen heraus und fischte aus ihm die kläglichen Bröselreste des kleinen Eichenblatts. »Kannst du ... das analysieren?«

»Ähm, Schatz? Ich bin nicht mehr mit den Schiffssystemen verbunden, weißt du noch? Geheimauftrag?«

Endlich öffnete Azur die Lider und hatte das schwarze Band um Nekos Hals wieder im Blick. »Stimmt. Bin noch nicht ganz wach. Pegasus? Kannst du das bitte analysieren?« Er platzierte die Überbleibsel auf einem der Analyse-Felder.

»Natürlich, Captain. Analyse läuft. – Abgeschlossen. Ergebnis: Es ist das Blatt einer Eiche.«

»Ha-ha! Analyse des Staubs darauf bitte. Genauer gesagt, suche nach Resten von Staub, die weder Philia oder Shiva, noch Serva zuzuordnen sind. Auch nicht mir oder dem ehemaligen Herrn Dra'ák-Prätor.«

»Danke, für die präzisierte Frage. – Neben den erwähnten Spuren befindet sich tatsächlich noch eine Anhaftung von Partikeln daran, die nicht zuzuordnen ist. Vom verbleibenden Energielevel schließe ich auf eine ältere Präsenz.«

Azurs Augen leuchteten über seiner kribbelnden Nase. »Älter als Serva?«

»Das ist korrekt.«

»Aber jünger als Phi und Shi – Ich meine, Philia und Shiva!?«

»Ebenfalls richtig.«

»Bingo! Das müsste es sein.«

»Kiro, Schatz? Was hat es damit auf sich?«

»Ganz einfach. Ich hab mich schon entschieden, wie ich diese entwürdigende Perimeter-Situation in ihr verbessern werde. Denn die ist nichts weiter als ein Darwinistisches Kolosseum der Angst, das nur Streit und Durcheinander in der armen Kleinen geschaffen hat. Wenn eine ihrer Persönlichkeiten zum Spielen rauskommen will, kann sie das nur, wenn sie vorher die anderen beiden bewusstlos schlägt? Wer hat sich so eine absurd dumme Regel einfallen lassen!?«

»Mein Schatz, ist das denn aber nicht bei jedem Spiel so? Ich meine, am Ende gibt es immer mehr Verlierer als Gewinner, oder?«

»Ja, nur ist ... sind sie doch die Mitspieler und nicht das Spiel. Vielleicht war das der Denkfehler ihres alten Herrn. Sie ist kein Spielzeug.«

»Ich verstehe, Schatz. Das ist sie nicht. Du willst also allen Quellen ... allen Mitspielern in ihr die Möglichkeit geben, unabhängig voneinander einen maximalen Einflusswert zu erreichen?«

»Ich würde eher sagen, dass sie sich, ohne konkurrieren zu müssen und jede für sich, frei entfalten können. Zu 100%. Ich weiß, dass das noch keine perfekte Lösung ist, weil sie so, rein mathematisch betrachtet, am Ende auch nur zu jeweils einem Drittel Einfluss auf ihren Körper haben können. Aber vielleicht kommt es gar nicht erst soweit und ich kann sie vorher gefahrlos voneinander trennen. Außerdem müssen sie sich so auf dem Weg dahin nicht mehr gegenseitig wehtun.«

»Das ist eine vorläufige Verbesserung. Da hast du Recht, Schatz. Zumindest gewährt es unserem Sorgenkind eine gesundere geistige Entwicklung. Ich soll also das Perimeter-System durch dein Parameter-System ersetzen, richtig? Da wäre nur noch das Problem ...«

»... mit dem für sie passenden neuen Körper. Richtig. Der hat mir bislang das meiste Kopfzerbrechen bereitet. Mir war bisher noch schleierhaft, ob Neko nicht auch, wie die anderen, einen physischen Körper gehabt haben muss. Einen, an den sie sich wenigstens erinnert. Von dem sie zumindest annimmt, dass es ihr eigener sei. Da war ich mir nie sicher. Bis eben. Serva hat mir damals etwas gesagt, als ich sie kennengelernt habe. Als sie ohne Körper auf Terra ankam und das Blättchen aufgehoben hatte. Während dieser Phase war aller Staub in ihr ohne Körper frei. Also auch der mit ihren Erinnerungen an Neko. Auch, dass sich der Staub um die Kerne formt und die Kerne wiederum den Körper bestimmen, hat sie mir damals schon erklärt. Nur hab ich es nicht richtig verstanden. Aber jetzt bin ich mir sicher. Ich bin mir sicher, dass Neko ihren eigenen Körper wiederherstellen können muss. Mit ein wenig Starthilfe meinerseits.
An den ursprünglichen Bauplan wäre ich gar nicht rangekommen. Aber den habe ich jetzt, dank des kleinen Blättchens hier.
Neo-Neko bekommt also einen Körper, der ihr quasi wie angegossen passen sollte, wenn ich nichts falsch mache. Und fühlt sich die Kleine pudelwohl, wird sie mit Sicherheit weniger misstrauisch sein. Und gleichzeitig sollte der Körper auch die schiere Kraft aushalten, die ich noch in ihr lassen muss. So müssten wir vor Shiva solange sicher sein, bis ich gelernt habe, sie zu bändigen. Dann kann Stück für Stück alles Künstliche weg, bis nur noch Philia und Shiva da sind und ich sie gefahrlos trennen kann. Das ist das Versprechen, das ich ihr gegeben habe. Nicht Serva, wie ich anfänglich gedacht hab, sondern Philia, die schon viel früher für dieses Waffenexperiment mit Shiva zusammengesperrt worden ist. Die beiden zusammen sind zu Neko geworden. Lange bevor Serva dazugesperrt wurde. An diesen Zustand kann sich Serva selbst also gar nicht erinnern. Ich war ja so dämlich! Aber so langsam erkenn ich das Gesamtbild dieses Puzzles. Jetzt, durch meinen kompletten ...«
Schmerzlich fasste er sich an die Brust und sprach dann weniger euphorisch weiter. »Das ist der Plan. Das Universum kann noch eine Weile auf seinen neuen Schöpfer warten. Ich muss erst mein Versprechen halten. Und noch etwas!«
Er stand vom Stuhl auf und starrte auf die anderen kleinen Talismane im geöffneten Säckchen. Und vorbei war es mit seiner kurzen Zügelung.
»Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mir nicht mehr gefallen lassen muss, dafür ausgelacht zu werden, ein noch so kleines Versprechen vor scheinbar wichtigere Ziele zu stellen! Falsche Ziele! Fremde Ziele! Ich fühle mich zum ersten Mal richtig und komplett. Und daszz kann mir keiner mehr wegnehmen! Mein Plan! Mein Wille! Mein gottverdammtes Leben, auf das ich so lange warten musste! Und wo wir gerade bei Planänderung sind: Schlusszz mit dem Menschen Kiro! Ich bin Azur! Azur Genesiszz!« Seine Faust schmetterte auf die Konsole und ließ die offene Glaskuppel über dem Flammenkind erzittern.

Neko zuckte im Schlaf kurz zusammen und verzog das Gesicht. Wie ein Baby, das kurz davor war, quengelnd aufzuwachen.

Azurs Blut kochte. Über sie gebeugt saugte er mit einem langen, tiefen Atemzug ihren feurigen Duft in sich auf. Die blaue Glut in seinen Augen verblasste, als er sich auf die Hände gestützt zu ihr herabbeugte. »Pschscht, mein kleiner Schatzzz. Bald wirst du frei sein. Stärker und besser!« Er küsste sie auf die Stirn – sie entspannte sich. Einen zweiten, längeren Kuss auf die Wange – ihre Atmung wurde wieder langsamer. Der dritte Kuss verweilte für einige Sekunden auf ihrem Mundwinkel – bis dieser sich zu einem sanften Lächeln verlocken ließ.

Azurs Gemüt hatte sich so schnell wieder abgekühlt, wie es ihn vorher erhitzte, hinterließ ihm nur einen leichten Kopfschmerz. Behutsam schloss er die Kuppel. Der eisige Blick und das aufgestellte Nackenfell des kleinen Sicherheitschefs entgingen ihm keinesfalls, wurden aber nicht weiter gewürdigt. Azur setzte sich stumm wieder vor die Bedienfelder und begann mit der letzten Phase seiner ersten großen Schöpfung:

„Projekt: N.E.K.O.[G.A.M.I.]

– Neo-elementarer Exterminator-Kernhybrid: Omega
[Genesis/Azur Multi-Intervention] –

Kern-Basis:

Shiva

Hybrid-Zusammensetzung (vorläufige Basis-Parameter):

54% Shiva-Ur-Kern (steigend!; nicht reduzierbar!)

54% Philia-Kern (rekonstruiert)

2% Serva-Kern (rekonstruiert)

Anmerkungen zur Hülle:

[S.E.R.V.A.-Klon-Hülle (instabil) – entfernt]

Neue Hülle (verbessert) – wird nach unbekannten Staub-Fragmenten uneingeschränkt natürlich rekonstruiert – Einflüsse & Erscheinung zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht bekannt – Fertigstellungsdauer ebenfalls nicht absehbar

Applikationen:

Getarnter, modularer Bio-Link – Überwacht durch Intelligenz: A.D.I.N.A. – Besonderheiten: Subraum-Peilsender, Shock-Stasis-Funktion (für Notfälle), die „Leine" (für Notfälle), Passiv-Modus (abgeschaltet sind: Kommunikation, Viadukt-Zugriff und Fernbedienungsfunktion), Aktiv-Modus (dauerhafte Übertragung von: Vitaldaten in x von 1.000 HP und aktueller Präsenzen der individuellen Kern-Aktivitäten in jeweils y von 100%)"

Er überflog nochmal alle Einstellungen seines doch stark kreationistischen Aktes. Seine Hand schwebte dabei gedankenverloren über dem gelben Bestätigungssymbol, das ihn ironischerweise an die Helix der DNA erinnerte.
»... den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann!«
Der Prozess begann mit seinem entschlossenen Faustschlag auf die Rune.


* * *


Die gleißenden Diamantsplitter schossen Tán gegen die makellose weiße Haut unter seinen Wangenknochen, hinterließen dort winzige rosa Flecken und verglommen dann in der Dunkelheit der Sphäre.

Aus dem Schönheitsschlaf geschreckt stießen seine zur Klinge vereinigten Finger dem vermeintlichen Angreifer entgegen, doch durchstachen nur den letzten pinken Splitter, der nicht schnell genug zu Boden fallen konnte. Ungläubig hielt der sich das aufgespießte Kristallteilchen vor die Augen. Seine Präzision hatte nicht geschlafen.
»Bericht!« Kurz ließ er seinen zornigen Blick über die Schulter schweifen – kein Priester in Sicht.

Einer der Analytiker stand bereits neben ihm, kratzte sich mit Blick auf die Spitze der Nahkampfwaffe seines Generals am Kinn und reichte ihm die kleine Hologrammtafel. »Wir sollten dem Scriptor wohl noch nichts sagen ...«

Tán überflog die weißen Runen, bis zu den vier lateinischen Buchstaben in schmerzhaftem Pink. »Ich wusste es! Der Priester wird nicht davon in Kenntnis gesetzt. Keinesfalls!«

»Zu Befehl. Heißt das jetzt, dass die Jagdsaison tatsächlich eröffnet wird? Wer ist das Ziel? Oder ... die Ziele?«

Der General strich mit der Klingenspitze seines Daumens über jeden einzelnen Punkt zwischen den Buchstaben. »Unser Primärziel ist eine lang verschollene, humanoide Elementarwaffe ... die Elementarwaffe! Die kleine, süße Dra'ák-Missgeburt, die nach der Zerstörung Tartaros' unser beider Völker im Zweiten Großen Krieg beinahe ausgelöscht hätte! Jeder Lux und jeder Dra'ák kennt, sucht und fürchtet sie gleichermaßen ...«

»Bastet!?«

»Nur einer von vielen Namen aus vielen Welten, die noch Götter brauchen. Bastet oder Sachmet; Discordia, Pachet oder Libitina in den provinziellen Reihen der Lux – Atropos, Hekate, Styx, Megaira oder Persephone in den alten Dra'ák-Kulturen. – Aber allen bekannt unter den Namen: Nemesis oder Neko!
Nichts als die personifizierte Form von Tod, Zwietracht, Eifersucht und Zorn. Hure aller Totenbeschwörer, Schoßkätzchen der Dämonen, Richterhammer der Titanen. Geschaffen als Shivas Gefäß, Pandoras Schmuckdöschen oder Lade des Bundes der Viatoris.
Und somit, mein lieber Freund, nicht ganz unwichtig in unserer Position«, dann sprach er gedämpft weiter, »auch potenzielle Energiequelle und Mittel zur Wiedererweckung des technischen Gegenstücks unserer geschätzten Kollegen, den Seraphim ...«

»Die Cherubim?« Der Offizier riss die Augen auf, schlug sich dann aber ebenso rasch die Hände vor den Mund.

»Schweig, du Narr! Er ...«

Ein dumpfes Grollen ging durch den gesamten Körper des Seraphs, wie ein Pulsschlag pochten Wellen aus dunklem Orange an den Wänden entlang. – Veritas war erwacht.
Ein einziges Wort flüsterte ohrenbetäubend durch das lebendige Metall der Schiffshülle; kratzte sich heiser in das Gehirn jedes Lux:
»Cheee-ruuu-biiim!«

Auch wenn es schier unmöglich sein mochte, fühlte doch jeder der Anwesenden die zunehmende Hitze des Triebwerks, das sich wütend eine anormale Leistungsspitze gönnte.


* * *


Ein plötzliches Vibrieren im Bio-Link ließ Azur zusammenzucken und schüttelte ihm die klitschnasse Zettelsammlung aus der Hand.
»Was zur Hölle war das denn?« Mit der Rechten angelte er nach den von James mitgewaschenen Überresten des Portalregisters, den linken Arm hielt er sich vors Gesicht, um das Armband zu inspizieren.«

»Captain?«, meldete sich Pegasus. »Es gibt ein unvorhergesehenes Problem mit Exekutive 8-1-4.«

Azur warf die Zettelei auf den Tisch der Messe und tippte ungläubig auf den Zahlen des Link-Displays herum. »Sehe ich! Stand da nicht eben noch ...«

»Der Lux-Seraph hat unerwartet seine Geschwindigkeit erhöht. Relicuus Tempus verringert auf: 01h:04m:00s«

»Danke, das sehe ich auch. Was machen wir jetzt?«

»Bei unserer derzeitigen Geschwindigkeit werden wir zu spät für das Sekundärziel kommen. Ich schlage eine Kursänderung vor.«

»Nichts da! Ich will, dass du alles aus diesem Schrotteimer rausholst, um die Zeit aufzuholen!«

»Ich rate dir ...«

»Ich brauch keinen Rat! Können wir schneller fliegen, oder nich?!«

»Um unsere Ankunftszeit anzupassen, muss ich alle von Adina eingerichteten Sicherheits-Begrenzungen abschalten. Gefahr einer Havarie, bei 90% Antriebsleistung, liegt dann bei 63%. Ich habe zwar mittlerweile Kontrolle über die Primärbewaffnung, nur wäre sie dann leider nutzlos. Unsere Energiereserve wird bei Ankunft auf 1% erschöpft sein. Wir sollten langsamer ...«

»Du gehst die Sache viel zu konservativ an, Pegasus. Im Gegenteil! Hau hundert Prozent in den Antrieb! Wenn wir vor den Lux-Typen da sind, können wir unseren Tankstopp an der guten alten Sonne einlegen und dann: Feuer frei!«

»Wenn wir das überleben ... Bei 100% Antriebsleistung beträgt die Havarie-Wahrscheinlichkeit dann 87% und die Energiespeicher werden auf 0% ausgebrannt sein. Bei diesem Quasi-Harakiri gibt es keinen
Plan B.«

»Ja, nehme ich zur Kenntnis! Tu es! Dreizehn Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit sind immer noch dreizehn mehr, als alle anderen sonst hätten. Dreizehn scheint sowieso langsam meine Glückszahl zu sein, schätze ich.«

Pagasus' Einlenken bedurfte keiner weiteren Worte. Die gesamte Innenbeleuchtung der Vindicta wurde unter den immer stärkeren Vibrationen der Verkleidung erst dunkelgelb, dann auch sichtlich schwächer.
Azur schnappte sich die desolate Blättersammlung des Notizbuchs und begab sich auf die Brücke. Oben setzte er sich wieder hinter die Armaturen des Kommandanten. Krume sprang auf den Stuhl zu seiner Rechten und inspizierte mit allen Sinnen den Arbeitsplatz des ersten Offiziers. Außerhalb der noch geöffneten Glassphäre verdampfte das ein oder andere kosmische Objekt, das den Kurs der Vindicta kreuzte, im dunkelblauen Nebelleuchten der Schilde. Azur lehnte sich zurück und genoss den Anblick. In seinen Augen spiegelte sich dieses symbolische Flackern der unbändigen Freiheit. Unbeachtet sprang die Stundenanzeige des Armbands auf null und die Sekunden begannen an ihrer statt zu zählen. Relicuus Tempus : 00h:59m:59s


* * *


An Bord der Veritas beherrschte unterdessen Totenstille die Szenerie.
Ein Kreisrundes Ensemble von Leuchtkristallen begann seinen Countdown mit dem Erlöschen des ersten von sechzig.
Der letzte Scanbericht wurde Geräuschlos überbracht und studiert. Ein Lächeln quittierte den Empfang und dankte dem Nicken. Nichts verbarg mehr das Atmen des Schiffs selbst, nichts den orangegoldenen Pulsschlag in den Adern des kristallinen Rumpfes, nichts das metallene Ächzen der Sehnen und Muskelfasern der Außenhülle.
In den Augen des Generals spiegelten sich die Lichter der Navigationskarte: Ein pinkes Leuchtpünktchen neben einem hellblauen, die sich in Kürze mit dem großen, weißen Dreifachkreuz am kleinen, gelben Stern zwischen ihnen treffen würden.

– Eine Stunde der Schweigsamkeit –

Bis der sechzigste Countdown-Kristall erlosch; der goldene Pulsschlag so abrupt zum Stehen kam, wie das gierige Maschinenwesen, das ihn erzeugte.


* * *


»20 Sekunden bis Kollision«, meldete die militär-taktische Stimme der Vindicta.

Azur riss die Augen auf. »Kolli... Wir sind zu spät! Stopp!«, brüllte er.

Pegasus schaltete den Antrieb in die Schubumkehr; die Vindicta bremste rapide ab. Eine heftige Explosion ließ die Hülle erzittern. Am Glas der riesigen Kuppel rauschte ungebremst, funkensprühend einer der kilometermeterlangen Stellarkollektoren vorbei. Geradewegs auf das Objekt zu, das Azurs Herz zum Rasen brachte. In die Tischkante vor ihm gekrallt, zog er sich daran hoch und starrte zur kleinen blauen Kugel hinauf.
Doch eines verfinsterte diesen wundervollen Anblick entscheidend. 

»Das ... ist ...? Wo ... ist ...?, stammelte er. Seine klaren Gedanken, wie auch sein Plan waren soeben einfach ausradiert worden.

»Das, Captain Azur, ist einer der Seraphim. Und wir sollten uns schleunigst etwas einfallen lassen, um zu verschwinden. Wir sind immer noch auf Kollisionskurs. 00h:02m:11s.«

»Aber ... aber ... wo ist die scheiß Sonne?!«

»Leider bereits annihiliert, es tut mir leid, Kiro, mein Freund.«

»Nein!«

»Doch. Exekutive 8-1-4 ist bereits in vollem Gange. Sieh hin!«

Die kleinen Fünkchen, die an den zwei hinteren Flügeln des Seraphs entlangtanzten, waren alles, was Azur noch vom gewohnten Licht- und Wärmespender seiner Heimat sah.
Die Vindicta trieb immer noch mit hoher Geschwindigkeit näher.
Die sechs gläsernen Flügel desanmutigen Monstrums begannen, sich um dessen silberglänzenden Rumpf zuschließen. Einer nach dem anderen legte sich um die Nadelspitze, die auf eine geradezu lächerlich schutzlose Welt gerichtet war. Bereit zur Injektion ihres heißes Gifts.
– Der Einschlag des abgerissenen Kollektors der Vindicta in einen der hinteren Flügel erinnerte Azur, trotz Megatonnen an Energiefreisetzung, an kaum mehr als das Auftreffen einer Luftgewehrkugel auf den Todesstern. Nur, dass hier der Todesstern die kleine Kugel war, die man ebenso gut nach dem Seraph hätte stupsen können. –
Alle sechs Flügel zeigten nun auf den Planeten. Ihr Sonnenglitzern entlud sich in den langen Rumpf des Ungetüms und schoss über seine Haut in die Spitze. Ein haardünner Strahl des absorbierten Sterns durchriss die weiße Wolkendecke und legte Meere und Küstenlinien frei, die Azur jetzt bereits vage erkannte.
Das Weiß war verschwunden. Alles Weiß. Das Grün folgte und wurde zu einem dunklen Braun. Die Ozeane verloren ihr Blau. Die verschwundenen Farben legten sich als dichter grauer Nebel um den Planeten. Der goldene Strahl flackerte geräuschlos ein paar Mal auf und versetzte das dunkelgraue Leichentuch in Schwingung; Wellen; Flutwellen, die in Sekunden um die Kugel fegten; immer schneller, immer heller wurden. Dann entzündete sich die Atmosphäre zu einem einzigen globalen Flammensturm.
»Die ... Flammenfluten«, flüsterte Azur der brennenden Welt entgegen. »Wunderschön ...«, hauchte eine innere Stimme.
Und in wenigen Sekunden fraß das Wesen vor seinen Augen die vorverdauten Elemente; saugte sie restlos in sich auf. Nur eines blieb. »Die Dunkelheit.« – »Macht ...«

»Captain!«, schrie Pegasus. – Das erste Mal, dass Azur ihn so hörte. »Azur! Wir werden gleich mit ihm zusammenstoßen. Wie lautet dein Befehl?! Wir sind kaum noch manövrierfähig. Energie kritisch!«

»... die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann ...« Azur ließ sich behäbig in den Schneidersitz herab. Die Augen geschlossen, sank das Kinn auf die Brust. In den Fäusten in seinem Schoß gebar sein Wunsch das blaue Feuer, angefacht durch die Schreie in seinem Kopf. Die Schreie derer, die in den Fluten verbrannten; im Feuer ertranken. Nur die Singstimme eines einzigen Mädchens wagte es – »pyromanisch, lyrisch. Pyrolyrisch?« – zu widersprechen. Sie schüttelte ihren feuerroten Lockenkopf. Die Stimme seiner Kindheit. Tessa. Vor seinem somniatorischen dritten Auge saß sie auf den Stufen vor einem großen Springbrunnen, streichelte dankbar Krume in ihrem Schoß, schaute ihn aufmunternd an. Während Kiro sie summend begleitete, sang sie eines ihrer Lieblingslieder:

»Die Sonne scheint mir aus den Händen
Kann verbrennen, kann euch blenden
Wenn sie aus den Fäusten bricht
Legt sich heiß auf das Gesicht ...«

– Die letzten Zeilen sang Azur mit ihr zusammen –

»Sie wird heut Nacht nicht untergeh'n
Und die Welt zählt laut bis ...«

»ZEHN!«, stimmte Pegasus laut mit ein. Und ließ Azurs Epiphanie damit in einer flammenden Seifenblase platzen.
»Relicuus Tempus: 00h:00m:09s!«

Azur öffnete die Fäuste und spürte das ausbrechende Feuer darin.

»ACHT!« Ein ohrenbetäubendes Warnpiepen begann.

Er öffnete die Augen und stand lächelnd auf. »... nicht untergeh'n.«

»SIEBEN! – Was sagst du da?« Überall flackerten rote Panele auf.

Er zwinkerte zu Krume herüber. »Die Rätselkönigin hat gesungen.«

»SECHS! – Du redest wirr.« Schwere Erschütterungen erfassten das Schiff.

Azur sah auf das riesige Solarsegel des Seraphs »Ramm-stein!« Er erkannte das kleine Loch, dass der abgerissene Kollektor der Vindicta dort geschlagen hatte. »Keine Schilde!«

»FÜNF! – Nein, hat ein Schiff dieser Größe nicht!«

»Krume, fahr unseren verbliebenen Flügel voll aus! Pegasus, Schiff hundertachtzig Grad um Längsachse drehen!«

»VIER! – Drehung eingeleitet. – Aber wir werden uns den zweiten Kollektor auch abreißen!« Sämtliche kleine Hilfsroboter staksten panisch in ihre Ladestationen.

Azur sah Krume eifrig auf dem Display rumpföteln. Das Schiff drehte sich mit ausfahrendem Kollektor-Flügel Richtung der Veritas. »Ich bin die Vindicta. Die Rache. Das Schwert!«

»DREI! – Du bist wahnsinnig! Wir werden stecken bleiben!« Robo-James verkeilte sich fest unter dem Kartentisch.

Der Captain setzte sich wieder ans Steuer. »Ich weiß. Alles in Ordnung.«

»ZWEI! – Was hast du vor?« Zischend verriegelten sich alle Sicherheitsschleusen der Vindicta.

»Sieh hin.« Azur griff sich eine der Notizbuchseiten und lehnte sich zurück, behielt aber die Hand auf dem Tisch, über vier rot blinkenden Runen.
» ›Nichts auf der Welt ist so mächtig, wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist‹ «, zitierte er Viktor Hugo.

»EINS!« Abrupt verstummten Vibrationen, Warnleuchten und das schrille Piepen. – Totenstille – bei 0% Energie.

Azurs Pupillen verengten sich schlagartig; fixierten den goldenen Schimmer in den Adern des Seraphs.
»... und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden ...«
Die Panzersphäre schoss schützend um die Brücke.

»NULL!«

Finsternis.

Relicuus Tempus: ZERO



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